Kann denn Wahrheit Sünde sein?
Wenn religiöse Vorstellungen oder gar Glaubensinhalte in Frage gestellt werden und an ihre Stelle
zeitgemäße Erkenntnisse treten, kann das Gotteslästerung, ja Sünde sein?
Es ist nur allzu natürlich, das der Mensch als Kind kritiklos die Sprache und damit auch die Sprachwelt
der Eltern übernimmt. Anders kann ein Kind nicht zu einem sozialen Wesen heranwachsen. Eine
Sprachwelt, eine Bilderwelt ein Alltagsverhalten. Dass aber der heranwachsende Mensch von Geburt an
kritikfähig ist, wissen alle Eltern zu berichten.
Eltern staunen oft, wenn sie bemerken, wie scharf die Beobachtungsgabe ihres Kindes ist. Gibt ein Kind
seine Beobachtung bekannt, und diese Beobachtung überrascht sie, dann reagieren sie mit der
Bemerkung: „Schlaues Köpfchen!“-
Später äußert sich die Kritikfähigkeit in der ewigen „warum“- Fragerei. Wenn diese Neugier nervt,
spätestens dann sollte man als Erwachsener erkennen, dass die Kritikfähigkeit des Menschen
vorgegeben ist. Kritischer Realismus.
Bei materiellen, technischen Fragen, werden die Antworten von den Kindern überprüft. Sie
experimentieren und freuen sich, wenn sie es nicht nur durchschaut haben, sondern ihre Erkenntnisse
auch anwenden könne und so werden sie selbstständig und kompetent.
Wenn es um Geschichten und Moral geht, versuchen sie es, bei Gelegenheit diese nach zu überprüfen,
indem sie sie nacherzählen. Dann gelten sie oft als „altklug“!
Der Protest, „Das hat Opa erzählt!“ „Das darf man nicht!“führt oft in peinliche Situationen, weil Kinder
Redewendungen der Erwachsenen ganz ernst genommen haben. Wenn es uns dann peinlich wird, sind
wir unserer „leichtsinnigen“ Rede überführt.
Dass Oma gestorben ist und „jetzt oben im Himmel ist, ja da oben auf dem Stern da“, ist ungemein
tröstlich aber nicht überprüfbar.
Dass Papa für die Mutti „Erich“ ist und die Mutti für den Papa „Hildegard“ ist, gibt auch eine Ahnung
dafür, dass es zwei Welten gibt. Dass Kosenamen auch nicht für jeden bestimmt sind, dass es eine
familiäre Innenwelt und daneben eine öffentliche Außenwelt gibt, dass man bestimmte Ereignisse oder
Verhaltensweisen vor der Außenwelt geheim zu halten hat, lernt ein Kind aus Schamgefühl auch.
Geheimnisse sind dann etwas Besonderes und schützenswertes.
In mehreren Welten zu leben lernt das Kind auch in sofern, als es bei bestimmten Gelegenheiten sich
anders zu verhalten hat, als es zu Hause üblich ist.
Familiäre, schulische und gesellschaftliche Erziehung ergeben dem jungen Erwachsenen dann ein
„allgemeingültiges“ Weltbild. Lernt der Mensch dabei das „Nachdenken“ oder dass „Gehorchen“, hat das
seine Auswirkung auf seine Selbstständigkeit und Selbstsicherheit.
Das alltägliche Leben wird leicht zur Herausforderung, orthodox-fundamentalistisch zu reagieren oder
offen zu sein für Neues. Dazu gehört auch die alles entscheidende Frage: Ist es das Recht, ja die Würde
des Menschen, an Grenzen halt zu machen oder sie zu überschreiten.
In der Technologie und Medizin wollen wir offene Grenzen und den möglichst besten Vorteil für uns. Und
wie ist es mit der Intellektuellen Aufrichtigkeit, der geistigen Wahrheit?
Nichts stellt uns offenbar mehr in Frage, als unser das Rütteln an unserem Selbstwertgefühl. Der
Mensch ein biochemischer Verbrennungsprozess, der aus Wasser und Mineralien besteht und mit dem
Tod wieder in diese Materialien aufgelöst wird, befremdet.
Was wurde die erste Herztransplantation diskutiert. Heute sind Transplantationen für die Meisten eine
erwünschte Selbstverständlichkeit, wie es im Mittelalter selbstverständlich verboten war, einen
menschlichen Leichnam zu sezieren.
Die Würde der „Totenruhe“ gilt heute noch, soweit sie den Menschen und nicht ein Tier betrifft, das wir
genüsslich verspeisen.
Die jüngste heiße Diskussion beschwor die neurologische Erkenntnis, dass Entscheidungen des
Menschlichen Gehirns in bildgebenden Verfahren früher erkannt werden, als die Person es selbst
wahrnahm: Gibt es einen freien Willen?
Wir leben in „hirnrissigen“ Welten! Es hängt vom Beobachter ab, wo und wen es schmerzt. Doch meist
merken wir es nicht und haben so unser Selbstbild bewahrt.
In der Physik, der Astronomie wie auch in der Quantenphysik und was es da alles gibt, macht man sich
offenbar kein „Weltbild“ mehr. Man hat Formeln, mathematische Erkenntnisse und offene Fragen. Diese
zu überprüfen oder morgen schon über den Haufen zu werfen. ist eine intellektuelle
Grundvoraussetzung. Die Religionswissenschaftler und speziell die Theologen ganz gleich welcher
Religion sind dagegen „aber gläubig“!
Ein anrührendes Beispiel ist der bekannte Theologe Rudolf Bultmann. Kein Theologiestudent der letzten
70 Jahre kommt an ihm vorbei. An seiner historisch-kritischen Arbeit und seinem
Entmythologisierungsprogramm scheiden sich die Geister, die Theologen, die Pastoren und die
Gemeindeglieder.
Als junger grüner Student habe ich ihn aufgeregt beobachtet, wie er als Kirchenvorsteher im
Gottesdienst die Kollekte einsammelte. 1962 habe ich in Tübingen Heideggers „Sein und Zeit“ gelesen,
aber nichts kapiert.
Dieser Tage habe ich sowohl das Referat von Christoph Fleischer über Bultmann, als auch im German
Handbuch – Artikel: Bultmann, Rudolf gelesen. Dazu den Bericht über das VELKD – Seminar vom 2. - 4.
Oktober 2009.
Interessant: Die Kontroverse zwischen Eta Linnemann und Ute Ranke-Heinemann. Hat Bultmann sein
Werk auf dem Sterbebett widerrufen? Eines aber steht offenbar fest: Bultmann war es sich bewusst,
dass er nicht konsequent entmythologisiert hat: Von einer Vorstellung von Gott wollte er nicht lassen,
wie auch Er und Fischer keinen Zweifel daran lassen, dass es eine christliche göttliche Offenbarung gibt.
Fischer versucht alle christlichen Theologumina existential aufzulösen, um so das
Entmythologisierungsprogramm zu rechtfertigen. Damit scheut auch er vor der letzten Hürde zurück,
dass es keine Offenbarung gibt, auf die die Menschheit zu ihrer Erlösung angewiesen ist.
Ich stimme dem zu, dass zum Lebensgefühl des Menschen das Emotionale, das existentiale, das
Numinose gehört. Aber dennoch: So wie die Philosophie Religion hinterfragte, sind auch andere Wege
der Religionskritik gerechtfertigt. Das „Heilige“ ist nicht mehr tabu. Darum verfolge ich den Weg,
religiöse Erfahrungen neurologisch zu erklären und das Christentum als einen geistigen Evolutionären
Schritt der Menschheit zu interpretieren. Astronauten Nahrung ist eben nichts für Feinschmecker.
(H-E.S. 16.02.2012)
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