Religiöse Aufklärung.
Liebe Schwestern und Brüder im Dienste der christlichen Botschaft, beamtet in einer Landeskirche oder beheimatet
in einer freien christlichen Gemeinschaft und sehr geehrte Damen und Herren!
Im Pfarrerblatt Nr. 4 des Jahrgangs 2011 hat sich Wolfgang Vorläufer unter dem Titel “Nicht ein Gott der Toten,
sondern der Lebenden“ christliche Zeugnisse in den Horizont der Neurologie gestellt. Dass ein lebender Mensch
sich aus neurologischen Verbindungen konstituiert, die in über 5000 Jahren strukturiert wurden und ein ganzes
Leben in historischen Fakten in einer Ansammlung von Ereignissen seines vergangenen Lebens präsentiert,
überfordert unsere Vorstellungskraft.
Zugleich macht diese Tatsache für uns einsichtig, dass Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten sei. Denn mit
dem Hirn-Tod eines Lebewesens zerfällt diese seine Persönlichkeit.
Ich möchte auf einen anderen neurologischen Tatbestand aufmerksam machen. Unser Gehirn ist über die fünf Sinne
mit der Außenwelt und seinem Körper verbunden. Jeder empfangene Impuls wird in diesem neurologischen
Geflecht verarbeitet und abgespeichert. Zum Glück geschieht das nicht so effektiv wie in unseren Rechnern. Es
geht langsamer und schon gar nicht kommt alles in unser Bewusstsein, - auf unserem Bildschirm.
Weniger als die Spitze eines Eisberges wird repräsentiert. Und was repräsentiert wird geschieht in einer „Sprache“
slc. Bildern und Symbolen, die wir mit unserer Geburt in unserem sozialen Umfeld erlernen. Bits und Bites werden
zeitbedingt so übersetzt, dass der Mensch in seiner Umwelt überleben kann.
Wer sich mit neurologischer Forschung auseinandergesetzt hat und das Glück hatte auch im SWR die Vorträge von
Dr. Alva Noe:“ Du bist nicht Dein Gehirn“ am 8.5.2011 und Prof. Manfred Spitzer : „Wie das Gehirn lernt“ am
28.5.2011oder Elsbeth Stern: „ „ M %: Juni 2011 in der Teleakademie des SWR. zu sehen, wird meine
nachfolgenden Gedanken vielleicht verstehen.
Die geistige Welt unserer Vorfahren war „mythologisch“. Alles war analog zum Selbstverständnis des Menschen
beseelt, lebte und kommunizierte.
Da alle Wahrnehmung neurologisch bedingt ist, hat das menschliche Gehirn die Impulse aus seiner Umwelt in das
mythologische Weltbild übersetzt. In diesem Weltbild gibt es dann auch Götter, Geister und Dämonen, die unserer
Selbstschau entspringen. Naturereignisse, Naturerfahrungen und Naturbeobachtungen wurden von unserem Gehirn
in die Bildersprache der Mythen übersetzt. Erkenntnisgewinne des neuronalen Komplexes Gehirn mussten
integriert werden, so weit die mythologische Sprache das hergab.
Die Sprache der Wissenschaft haben wir uns nur langsam und mühsam erarbeitet und ist den meisten Menschen der
Gegenwart zu trocken. Da geht es um überprüfbare Mathematik, mathematische Formeln und viele ungelöste
Fragen.
Der Mythos kann nicht mit offenen Fragen das menschliche Wohlbefinden herbeiführen. Er hat auf alles eine
Antwort. Die Wissenschaft hat nur Thesen und Theorien zu bieten, die auf eine Lösung drängen.
Eine bis heute für uns offene Frage ist das Theodizeeproblem. Gott lässt sich weder begreifen noch verfügen und
darum auch nicht verstehen. Wir trösten uns mit dem Glauben, dass spätestens am Ende unseres Lebens in einem
„Neuen Leben“ alles seine Antwort findet. Da mag auch ein Gericht zu erwarten sein und auf einen gnädigen Gott
gehofft werden.
Ich glaube aber, dass die Mythen mehr Wahrheiten bieten, als wir es bisher verstanden haben. Denn hinter den
Mythen wie auch hinter den wissenschaftlichen Theorien steckt das von der Biologie her viel intellektuellere
Gehirn.
Gott ruht.
Der Ägypter Hamed Abdel Samad gab mir den Anstoß zu diesem Text. mit dem Hinweis auf die Eigenart religiösen
Denkens über die Götter: In der japanischen Vorstellung schlafen die Götter und der Gläubige muss sie erst
wecken. (Der Untergang der islamischen Welt S. 126).
Wird hier nicht auf die Alltagserfahrung reagiert, dass die Götter uns Menschen nicht nach Belieben zu Hilfe eilen?
Gebete, Opfer, Wohlverhalten, Treue und viele andere vom Glauben betretene Wege zu Gott sind selten ( zu
50%?) erfolgreich.
Diese religiösen Wege zu einem besseren Leben zu suchen, ist ein Spezifikum menschlicher Existenz, sein Streben
nach einem besseren Leben, einer möglichen Freiheit. Dieses Bestreben ist in unserem Gehirn angelegt und wird
auch dort betrieben. Die Lösungsversuche kommen von dort. Nur wenn es dem Gehirn gelingt, diese Wege über
unser Bewusstsein oder über Reflexe in eine Handlung zu übersetzen, kommt es/ kommen wir zum Ziel.
Die Mythen des Christlichen Glaubens enthalten diese Hinweise.
1.
Gen. 2,2f. Gott ruht und heiligt seine Schöpfung und segnet sie. Die gesamte Schöpfung ist geordnet und
hat ihre spezifischen Aufträge. Die Schöpfung ist in seine Selbstverantwortlichkeit entlassen und Gott
braucht nicht mehr einzugreifen, da alles gut ist. Er kann ruhen. Das betrifft auch den Menschen: Gen.
1,27-30. Als Ebenbild Gottes soll der Mensch sich schöpferisch verhalten, sich vermehren und aus dem
Angebot der Schöpfung ernähren – und bedienen. Das ist des Menschen Würde: Selbst tätig zu werden.
Darüber hinausgehende Hilfeersuchen und erhoffte Heilsversprechen, die im Alten Testament erhofft werden
erfüllen sich nur durch Neuinterpretation alter „Versprechen“ in einem bescheidenem Maße.
Glaubensvorstellungen werden zeitbedingt revidiert.
2.
Im Neuen Testament wirkt das Gehirn gewissermaßen mit einer Holzhammermethode auf
unser Bewusstsein ein. Es macht Jesus von Nazareth zum Heilsbringer. Aber der
mythologisch geprägte Mensch versteht nur Bahnhof und bereichert das religiöse
Panoptikum mit einer neuen Gottheit: Jesus, dem dreieinig offenbarten Gott.
Das Johannesevangelium aber bringt es auf einen Punkt: „Gott ist Mensch geworden“.
Die Liebe, die wir uns von einander erhoffen, die Verbesserung der Lebensbedingungen
hat Jesus von Nazareth selbstbewusst praktiziert. Er machte sich frei von dem, was
geschrieben steht und von dem Aberglauben, dass da eine externe Hand in unseren Alltag
eingreift! Dieses selbstherrliche Leben Jesu hat die Umwelt provoziert. Will er etwa Gott
ersetzen? – Ja, wir glauben an ihn - als den Stellvertreter Gottes. Aber das ist schon wieder
ein Rückfall in die Rolle eines hilflosen unmündigen Kindes. Es gibt keinen Gott, der seine
Schöpfung revidieren könnte. Es gibt nur den Menschen, dessen Gehirn nach besseren
Lebensbedingungen sucht. Wir sind nicht das Gehirn, aber das Gehirn produziert das, was
wir irrtümlich für Gott halten, zu dem wir beten, mit dem wir sprechen und von dem wir
Antworten erwarten.
Wie tragend, wegführend und Wegführend aber Jesus von Nazareth ist, erfahren wir in der
Osterbotschaft: Die Liebe lässt sich weder einschüchtern noch töten. Sie ist der Heilsweg:
Christus ist auferstanden – „ins Wort“. So die Bultmannschule. Jesus ist die göttliche
Liebe, in seiner Person verwirklicht.
Welch eine Kraft hinter dem Selbstverständnis Jesu steht, bezeugen Himmelfahrt und
Pfingsten: Ich geh fort und ihr bleibt da!
Der Geist der Liebe ist nicht auf seinen speziellen Körper, außerordentlicher Zeugung oder
Empfängnis angewiesen: Ihr Jünger sollt von mir – der in mir verkörperten Liebe -
zeugen. Dafür gebe ich euch meinen Geist, den Tröster. Ihr könnt alle meine Stellvertreter
sein. Ihr habt wie ich Vollmacht, Sünden zu vergeben! Ihr sollt in der Welt wie ich Wege
eröffnen, dass Menschen zu einem neuen selbstbestimmten Leben finden.
Es ist, als hätte der Mythos den Aberglauben des Menschen wahrgenommen.
Pfingsten.
Pfingsten, die Feier der Ausgießung des Heiligen Geistes. Nicht allein die Jünger haben die
Voraussetzung, die göttliche Liebe Jesu zu verwalten zu praktizieren! „5000“ empfingen
den Geist der Liebe. Die Liebe ist der Fels, auf den sich unsere Kirche gründet. Franz von
Assisi, Hildegard von Bingen, Martin Luther, der Graf von Zinzendorf, Mutter Theresa und
viele andere mehr lebten die Liebe auf ihre Weise. Ihr Glauben und Tun hat die Welt
verändert. Sie sind die Wegmarkierungen der christlichen Dynamik.
Hallo! Augen und Verstand geöffnet: Wenn wir nicht aktiv werden, bleiben wir Spatzen in
einem liederlichen Nest. Wenn wir nicht den Mut entwickeln, die Zukunft zu gestalten,
werden wir zu Fundamentalisten, die mit allen Mitteln die Ehre ihres Glaubens und ihres
Gottes verteidigen, die das Alte und die väterlichen Traditionen verteidigen und die
betenden Hände in ihren Schoß legen in der Erwartung des Himmelreiches, oder mit
Gewalt eine spezielle Glaubensform erzwingen, die Menschen zu befolgen haben. Im
Mythos gesprochen: der Mensch ist auf Erden an die Stelle Gottes getreten.
Die Liebe ist die Chance der nackten emotionslosen Wirklichkeit eine Alternative zu
bieten.
Die religiöse Aufklärung ist zielführend im Interesse des das „Heil“ suchenden Menschen.
Die säkulare Aufklärung glaubt, ohne „Gott“ auskommen zu können. Sie übersieht, dass
auch die Wissenschaft „glaubt“. Auch die Wissenschaft sucht nach Ideen und Theorien.
Dass der Mensch emotional ängstlich und religiös ist, wird oft übergangen.
Theologie muss sich im Kontext der Neurologie neu verstehen.
1.
Alle Religionen und ihre Konfessionen sind gleichwertig, was ihren Wahrheitsanspruch
betrifft.
2.
Alle Religionen sollten sich in den Dienst der Menschen stellen, unabhängig von
Geschlecht, Nation, Alter oder Bildung. Alle Religionen sollen mit dazu beitragen, dass
lokale Staatsformen sich kritisch internationalen Werten anpassen.
3.
Religion ist Privatsache.
Religiöse Emotionalität.
Auch die Emotionen, die religiöse Erfahrungen wie auch religiöse Erlebnisse begleiten,
werden im Gehirn ausgelöst. Es sind hormonelle Reaktionen auf die Sinnlichen
Wahrnehmungen, geistige Erkenntnisse und geistigen Erfahrungen. Diese Emotionen
stehen in der Spannung zur „Vernunft“. Wer erlebt das nicht täglich bei den Versuchungen
des Lebens?
(H-E.S. 9.9.11.)
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