Verhungert in Königsberg
III. Briefe der Königsberger.
Briefe der Omi Werner.
42.
26.1.1945.
An Familie Blockus u. E.G. Schulz. 4 Köslin i/ Pommern Am Ring 23 II. Kbg.
26.1.45.
Ihr Lieben alle. Ob dieses unser letzter Gruß ist oder ob wir uns noch mal wiedersehen werden, weiß nur Gott
allein. Gestern besuchte uns noch Werner Schnabel u. konnte diese Nacht bei uns schlafen. Wir sind alle ruhig jetzt
ist Vati vom Dienst befreit aber es führt kein Weg hinaus, wir teilen das Loos mit so vielen. Nun laßt es Euch allen
gut gehen. Wir grüßen euch alle recht herzlich Eure getreuen Euch liebhabenden Eltern. / Heute kommt noch einen
Gruß von Frau Heinrich wir sollen doch bloß mit den Kinderchen dort hinkommen.
43
Kbg. 29. 1.45.
Ihr Lieben alle alle!
Wir sind noch in unserer warmen Wohnung u. warten auf das Wunder, das wohl doch nicht kommen wird. An den
Kanonendonner mit allem drum und dran haben wir uns schon gewöhnt. Wie mag es nun Euch gehen? Ob ihr mit
den Kindern gut in Köslin aufgehoben seid? Unsere ganzen Bekannten sind alle hier, wir Alten kommen zum
Abtransport zuletzt dran u. dies wird wohl nicht gelingen, falls die Lage sich nicht bald zum besten wendet. Licht
u. Gas ist noch intackt, zum Essen haben wir auch genug , jedenfalls solange uns das Leben noch geschenkt ist.
Wenn ihr nur noch eine bessere Zukunft erleben möchtet, dies ist unser innigster Wunsch.
Viel Leid und Elend ist nun auch über so viele liebe Heimatstädte mit unsern l. Freunden hereingebrochen dazu
diese unerbitterliche Kälte. Haben wir soviel Ungemach verdient? Wir sind ruhig u. nehmen gefaßt unser Schicksal
hin. Sorgt euch nicht so sehr um uns, wir alle stehen in Gottes Hand. Grüßt auch herzlich mein liebes Mamachen,
daß sie dies alles auch noch erleben muß. Nun wünschen wir Euch alles Liebe und Gute u. grüßen Euch recht
herzlich Eure getreuen Eltern und Großeltern.
( am Rand ) Gruß an alle Lieben in Danzig.
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Postkarte An Herrn E.G Schulz Danzig I, Pietzkendorf, Kirchenstieg 3. : Kbg. 29.1.45.
( Vermerk von EGS: "abgestempelt 6.2. Eingang 21.2. Besten Gruß Erich)
Ihr Lieben ! Gleichzeitig habe ich einen Brief nach Köslin geschickt da wir annehmen, daß Hildegard, Lieselotte u.
die Kinder dort sein werden. Bis jetzt sitzen wir noch in unserer warmen Stube, Gas u. Licht brennt auch noch. An
ein Fortkommen für uns alte Ehepaare ist nicht zu denken. da nicht mal ein Teil Frauen m. Kindern fort gebracht
werden kann. Es ist rings um viel Elend u. Leid. Wir warten ruhig, wie es auch kommen mag. An den
Kanonendonner mit allem drum u. dran haben wir uns schnell gewöhnt. Hoffentlich kommt bald die ersehnte Hilfe.
Nun hoffen wir, daß wenigstens Ihr Lieben in Sicherheit seid. Alles Liebe u. Gute wünschen wir Euch für die
Zukunft. Grüßt bitte meine l. Mutter u. Schwestern .Schwager. u.s.w. Euch grüßen alle besonders herzlich Eure
Eltern und Großeltern.
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Postkarte ( Antwort)mit kyrillischen Worten. Abgestempelt am 15. 2.45 in Königsberg.
An Familie (von der Rückseite her geschwärzt) Danzig I Pietzkendorf Kirchenstieg 3.
Absender: L. Werner. Königsberg Pr. Brückenstr. 1.An alle unsere Lieben in Danzig! Euch zur Nachricht, daß es
uns bisher gut ergangen ist u. wir sind bis auf Erkältung gesundheitlich gut geht. Vati hat heute seine Feuertaufe
erhalten. Während er mit anderen Männern und Frauen bei ( es folgen zwei 3/4 geschwärzte Zeilen). Hier wird
schon Post ausgetragen doch wir haben seit 18.1. keinerlei Nachricht von Euch bekommen. Oder habt ihr uns
schon tot gesagt. Hätten wir uns aufs Gradewohl aufgemacht, wären wir vielleicht nicht mehr da. Ob wir nun doch
Todgesagte werden sollen oder ob man uns raushauen wird, steht in Gottes Hand. Im Übrigen ist das enge
Zusammenstehen wunderbar, einer sorgt für den anderen eine ganze Schicksalsgemeinschaft. (drei geschwärzte
Zeilen). Feiern täglich Geburtstag. Vati ist viel unterwegs, hat 14 Häuser mit 140 Wohnungen zu betreuen. Ich
stricke dauernd Soldatenstrümpfe. Schreibt bald. Seid alle alle herzlich gegrüßt von Euern Eltern und Großeltern.
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( russische Postkarte. Adressiert: ) Deutschland. Rusische Besatzungszone. / An Werner Schulz. (15) Mühlhausen.
/ Waidsstr. 37 / Absender: Königsberg, Lämmerweg 27. / Frau Luise Werner.//
d. 10.12. 45. Ihr Lieben alle! Mit großer Freude / Eure Karte vom 1.X. dankend erhalten, gleich… / traf ein Brief
von Hildegard ein. Ja, ich lebe noch, hoffe / auch noch auf ein Wiedersehen mit Euch Lieben, / aber es muß bald
sein, denn wir wenig Über- / lebende sind am Ende unserer Kraft u. daseins- / Möglichkeit, ich schreibe in
nächster Zeit einen / ausführlichen Brief an Eckernförde, der dann / auch an Euch weiter gereicht werden soll. Wir
warten / auf Erlösung, haben nichts mehr Versetzbares, um / unser elendes Dasein zu erhalten. Was mit uns / hier
gespielt wird, könnt Ihr Lieben Euch einfach nicht / vorstellen. Kbg. Eine tote Trümmerstadt, aufgebaut / ist
nichts, wir selbst wohnen nur in Keller u. Ruinen / Keine Arbeit. Kein Brot nur wenige Deutsche haben / noch
Beschäftigung, wir sollen ausgelöscht werden. Karl / ist wohl dran! Für heute genug, alles Liebe u. Gute /
wünschend grüße ich Euch Lieben alle. Eure Luise W.
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Postkarte
Nach: Magdeburg, Harbeter Str. 3 ? Richard u. Else Schnabel.
d.1.6.1946.
Königsberg, Speichersdorf , Lämmerweg / Ihr Lieben alle! Gebt mir bitte umgehend Nachricht, / ob Ihr wißt, wo
Hildegard oder Liselotte ( Siegfrieds / Frau ) sich befinden u. ihre Adresse, dies ist die erste / Post, die wir
schreiben können, ich weiß bisher von / ihnen nichts. Karl ist am 28.11.45 an schwe- / rer Diphterie gestorben, ich
habe im Ernte- / Einsatz meinen rechten Zeigefinger ver- / loren u. kann daher wenig arbeiten. Wir / wohnen zu
vier in einem Zimmer zusam- / men u. helfen uns gegenseitig, so gut wir / können. Wir bangen uns alle sehr nach
un- / seren Angehörigen. Schreibt bald. Es grüßt alle, alle Eure Schw. u. Tante Lotte Werner.
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Ingelsburg/ bei Adorf, Vogtland/, Neue Schule/, Helga Schnitzler/b.
(5b) Königsberg, Speichersdorf, Lämmerweg 27.
Werner
M. herl. Helgachen! Gottlob Ihr seid alle glücklich beisammen, wir machten/uns gr. Sorgen um Euch. D. l. Brief
v. 9.5. erreichte mich/ gestern, Tagen erhielt ich überhaupt die aller erste Post seid / Januar 1945. U. zwar von
Schulzens, die sind alle 5 beiein- / ander. Erich kam noch 3 Tage vor der Kapitulation aus D. / heraus. Liselotte
betreut Christels beide Mädchen Von Role bisher kein Lebenszeichen. Ebenfalls wissen wir nichts von m. Mutter
u. m. Schwestern. Schulzens Brief datierte allerdings vom 3.11.45. abgestempelt 4.4.46. / Adresse E. Schulz
Eckernförde (24) Am Mühlenberg 4. - Wir haben / Schweres durchlebt. Gerdi ist am 28.11.45 an Diphtherie
heimge / gangen. Ich habe im vorjährigen Ernteeinsatz meinen rechten Zeigefinger eingebüßt. Trotz Invalidität
arbeite / ich seit einem Monat in einem Bautrupp als Handlan / ger. Von Bekannten wohnen Ehepaar Wundram / in
mein- / ner Nähe, beide arbeiten in einem Straßentrupp. Fr. W ist schwer lungenkrank, ich fürchte, sie wird
Deutschland / nicht mehr sehen. Wir kamen damals nicht mehr aus Kbg. Heraus, wir sind hier sehr verlassen,
wohnen mit 7 Frauen in einem Zimmer, besitzen tun wir nichts. Kbg. ist eine tote / Ruinenstadt. M. Verlassenheit u.
Sehnsucht ist groß. Wünsche / Euch allen alles Liebe u. Gute u. grüße Euch Eure Mutt Werner.
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18.08.1946.
Postkarte der russischen Besatzung-Militärcensur. 20044
An Erich Schulz, Eckernförde, Mühlenberg 4
Absender:
Königsberg, Speichersdorf, Lämmerweg 27. Luise Werner.
M hzl. Kinder alle! Seit Vatis Geburtstag. // Speichersdorf. Kbg. 18.8.46./vorigen Jahres heute das erste
Lebenszeichen / von Euch erhalten, habt herzl. Dank , war schon auf dem seelischen hatte keine Hoffnung mehr..
Gottlob, dass Ihr zusammen gekommen seid. Hoffe, daß es Euch weiter gut ergangen ist u. / Ihr Lieben alle gesund
seid u. schon wieder aufgebaut habt. Wenn / nur erst regelmäßiger
Briefverkehr eingeführt würde, Euer l. Brief / datiert vom 3.11.45, abgestempelt aber erst am 4.4.46. Unser lieber /
Vati u. Opa ist nicht mehr, er ist am 28.11.45 an schwerer Diphtherie / verstorben, ich habe im vorigen Ernteeinsatz
meinen rechten / Zeigefinger eingebüßt u. bin dadurch sehr behindert u. hilflos / Jedoch darf dies kein Hindernis z.
Arbeit sein, seit 14 Tagen ar- / beite ich bei einem Bautrupp, die 2 Stunden Mittagzeit reicht / kaum z. kargen
Mittags, ich wohne mit 3 Arbeitska- /. meraden in einem kleinen Zimmer zusammen, vor dem Win- / ter fürchten
wir uns. keine Brennung . Holz müssen wir uns selbst suchen. Von Bekannten wohnt noch Ehepaar Wundram in 10
Minuten / Entfernung, beide arbeiten in einem Straßentreupp, Meta W. ist / mir wie eine liebe Schwester, leider ist
sie schwer Lungenkrank u. / ich fürchte, ihre Tage sind schon gezählt. Vati durfte damals sei- / nen Dienst nicht
verlassen, u. als er Erlaubnis bekam, ging kein Zug mehre u. von Pillau bekamen wir keine Schiffskarte mehr. /
Kbg. Ist nun eine Ruinenstadt. V.u. Haus stehen nur die Mauern, / auch Keller ausgebrannt u. unser Koffer. Auf
gleich abgehender Karte mehr. Herzl. grüßt u. küßt Euch Eure getreue Mutter u. Omi.
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.
Zone Germany/(24) Eckernförde/ Am Mühlenberg 4/Hildegard Schulz. Speichersdorf b. Kbg. D. 18.8.46.
Meine herzl. Kinder! Eure lieben Zeilen vom 3.11.45 geben mir wieder Hoffnung auf ein Wiedersehen, wie bange
ich mich nach meinen lieben kleinen Trabanten, Hans Eberhards geschriebene Addresse erfreute / mich sehr, hier
ist noch kein Unterricht., Kinder sind nur noch wenige. Ich / bin froh, dass ich Vati hier nicht alleine gelassen habe,
ich hätte doch / keine Ruhe gefunden, so konnte ich ihn auch in seinen letzten / Tagen noch nahe sein, auch hat er
noch einen Sarg und Einzel- / grab bekommen! Sein letzter Gruß u. Segenswunsch galt / Euch u. dass sich mein
fester Glaube an ein Wiedersehen / erfüllen möge. Habt ihr nichts von Omchen und den gehört? Sie werden auch
fort sein. Wie / geht es Liselotte mit den Kindern? Wie gnädig / hat es Gott mit Siegfried u. Christel gemeint, sie /
waren die Bevorzugten des Herren, brauchten dies / Schwere nicht durchzumachen. Schreibt gleich nach Empfang /
dieser beiden Karten, ich sehne mich / sehr nach Deutschland, Wundrams sind auch / ohne Nachricht von ihrem
Sohn, ob er noch lebt / ist sehr fraglich. Nun wünsche ich von Herzen alles Liebe und Gute, hoffe, dass Euch m.
Zeilen gesund antreffen. Herzl. grüßt u. küßt Euch Eure Mutt u. Omi.
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Censor 0599
An Erich Georg Schulz Eckernförde (24) Am Mühlenberg 4.
Den 10.12.1946. Speichersdorf bei Königsberg. /
Meine herzl. Kinder alle! Eure lieben herzlichen Zeilen, am / 20.9. Erhalten, unsagbar m. Freude, heute erst diese
Karte, / ausführlicher Brief folgt. Mit Eurerm Brief kam auch Wer-./ ners Karte. Erichs Karte noch nicht
eingetroffen. Wir alle / warten auf Erlösung, wir sind am Ende unseres Daseins, nichts zu essen, in Lumpen
gehüllt, keine Erhaltungsmöglichkeit mehr. Sterblichkeit übergroß, / überall ein Bild des Jammers u. Elends,
überall die / bange Frage : Wann geht’s heim ins Reich?? Ihr Lie- / ben könnt es Euch wirklich nicht vorstellen,
was / mit uns hier gespielt wird, wir bekommen weder Brot noch Sonstiges , alles, was irgend versetzbar war, ist
nun versetzt, um etwas Brot oder Körner zur Suppe / zu kaufen, na was klage ich, hoffen tue ich, dass wir / bald
erlöst werden, sollte m. Kraft nicht mehr ausreichen / dann sterbe ich beruhigt, ich weiß, Ihr Lieben / seid vereint,
Ihr baut wieder auf, Ihr seid jung. Bleibt / schön gesund, grüßt alle. Alle, meine kleinen Lieb- / linge stehen mir
immer vor Augen , sie waren zu / lieb, ich möchte Euch alle doch so gern wiedersehen, herzliche / Grüße u. Küsse
von Eurer Mutt u. Omi.
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(31.3.) Kbg. Den 9.1.1947
Mein liebes gutes Tochterchen! / Vor zwei Tagen schrieb ich einen / langen Brief an Erichs Adresse / u. in
Speichersdorf in den / russischen Postkasten eingesteckt. / Schreibt doch bitte, wie viel / Tage der früher oder
später / angekommen ist. Diesen / Brief stecke ich in den Post- / kasten der einzigen allgemeinen Kbg. Post ein. /
Morgen wollen wir auf den großen Markt gehen./ 3 Stunden hin, 3 Stunden / zurück, und 20 Grad Kälte. / aber die
Not ist groß, ich habe / wieder nichts zu essen, ob ich die / aus Resten gestrickte Handschuhe / morgen für 25 -30
Rubel los- / werden werde? Ein 4- (Pfund) schweres / Brotchen kostet aber 60 -70 Rubel.. / Heute konnte ich ein
Polster- / Hockerchen für 20 Rubel los werden., ich / habe nun keine Sitzgelegenheit / mehr, alles nur Entbehrliche
ist / schon versetzt, aber vielleicht / schaffen wir es doch noch mit / dem Rauskommen, Gerüchte / schwirren ja
genug herum. / Anbei auch eine Photographie / von unseren 3 Paßbildern, / sie kosteten 30 Rubel u. 5 Rbl. / das
Paßblättchen noch extra. / Ja hier sind Preise! Also nun / für heute Schluß, Sonntag geh / ich wieder zu Vater
Wundram zur Nacht u. schreibe wieder an / Euch. Herzlichst Eure Mutt.
( Nachsatz auf der ersten Seite auf dem “Kopf” geschrieben.)/
Zugleich geht eine Karte an Euch ab./ schreibt, ob die angekommen ist.
53
/Eingang 3.4./
Königsberg, den 19.1. 1947.
Unterwegs, ein Brief an Erichs Adresse vom 8.1. Abgesandt aus
Speichersdorf und eine Karte an Hildeg. Adresse / - dt Adresse abgesandt v. der Kbg Post, am 10.1., welche Post
kommt früher an?
Herzlich Eure Mutt.
Meine herzlieben Kinder !
Gestern hatte nun unser l. Vatchen Geb und unser aller Gedanken werden sich wohl gekreuzt haben. Ja ich kann
und will mich noch nicht mit dem Gedanken vertraut machen, dass vielleicht auch m. Tage schon gezählt sind,
wenn die ersehnte Hilfe nicht bald kommt. Denn wir alle Hiergebliebenen sind dem Hungertod geweiht. Es ist
entsetzlich für uns alle, einer möchte dem anderen helfen u. kann es nicht. Vater Wundram u. ich liegen uns
manchmal in den Armen u, Tränen laufen zusammen, dann richten wir uns wieder auf und hoffen u. werden immer
von Neuem enttäuscht. Mittwoch haben wir
1b)
beide in einem kl. Handwagen Hans Wundr. zum Krankenhaus nach Kbg. gefahren. Gottlob hatte der starke Frost (
bei 25 Gr Kälte ) nachgelassen und es war richtiges Frühlingswetter, aber es war sehr glatt und ich mit, in
Klumpholzschuhen, war für zwei Tage erledigt. Hans Wundram sollte am Knie operiert werden, sein alter
Kriegsschaden, der nicht zuheilen durfte, war doch zugeheilt und nun war der Eiter wohl in die Blutbahn ins Knie
gegangen. Hoffentlich übersteht er alles u. er kommt wieder als Nachtwächter in seine alte Stellung, die tapfere
Meta hat seinen Posten übernommen in einer kleinen Holzbude, 16 Std Wache halten, ist nicht leicht, alle halbe
Stunde um einen langen Speicher gehen u, die Plomben an den Türen prüfen. Heute traf nun auch das Entsetzliche
ein, vor dem sie sich besonders gefürchtet hat, ein 21-jähriger Russe, der auch mit anderen Russen im anderen
Wächterhaus Wache hielt, kam zuerst ganz harmlos zur Meta herein, sprach von diesem jenem, u. zuletzt
vergewaltigte er sie, dies passiert nun noch nach zwei Jahren Frieden, ist es nicht entsetzlich, welche Schmach
sogar wir alten Frauen über uns ergehen lassen müssen? Ich hatte heute früh schon keine Ruhe u. als ich zu ihr
kam, fand ich sie // -
2)
aufgelöst in Tränen, gebrochen an Leib und Seele. Rechtlos, ehrlos, schutzlos, heimatlos jeder Willkür ausgesetzt,
sogar die kleinen Russenkinder spucken uns an und werfen uns mit Steinen, das ist unser schweres Dasein, für das
es keine Hilfe mehr geben wird, denn sie wird zu spät kommen. Und Ihr meine Lieben werdet auch nichts mehr für
uns tun können, denn wir haben ja keinerlei Behörde, an die wir uns wenden könnten, auch für Euch besteht ja gar
keine Möglichkeit, uns vielleicht //
2b)
hier raus zu holen u. zu erlösen! Ihr würdet in den Keller eingesperrt werden u, verschwinden, also macht nicht
den Versuch, hierher zu kommen. Nur das Rote Kreuz oder die Internat. Kommission könnte sich noch für uns
einsetzen u. uns hier herausschaffen, aber von wo aus dies geschehen könnte, wüßten wir nicht, wir haben doch
keine richtigen Bahnhöfe, geschweige denn Fahrpläne oder sonstige Verbindungen mit dem deutschen Reich, wir
sind eben Rußland u. für Euch abgeschrieben. Keinerlei Ahnung, was mit uns gespielt wird, was über uns gelogen
und geschrieben wird, wissen wir auch nicht, wir bekommen kein Brot, keinerlei Lebensmittel, daß wir noch
vegetieren, verdanken wir allein unserem starken Lebenswillen, unsere Lieben wieder zu sehen, aber unsere
Lebensmöglichkeiten schwinden jetzt dahin, wir schaffen es wohl nicht mehr und weit ist noch das Frühjahr hin,
wo es vielleicht Arbeitsmöglichkeit gibt, dazu werden unsere //
3 )
Kräfte aber nicht mehr ausreichen. Ihre Lieben sollte uns deutsche Menschen nur ansehen, die Gesichter u. Beine
von Wasser geschwollen, zerlumpt, von den kleinen Tranfunzeln Kleider und Körper verrußt. Keine Seife zum
Waschen, unsere Behausungen spotten jeder Beschreibung, Ihr könnt Euch bestimmt keine Vorstellung hiervon
machen. Euer liebes Familienbild mutet alle, die es sehen, wie aus einer anderen Welt an. Ich will Euch nur mal
meine Kleidung schildern. //
3b)
Ich hatte zur Nacht das Hemd an, das gerade an der Reihe ist, also bin ich noch reich, daß ich wechseln kann, also
entweder ein Trikothemd von Vatchen, oder ein Oberhemd von Siegfried, das Vatchen auf der Flucht hatte, ich
besitze dann noch 2 ganz zerstopfte Trikothemdchen von mir, die immer noch zur Reise ins Reich gelassen werden,
dann also weiter ziehe ich morgens beim aufstehen an: erst 1 Paar ganz zerstopfte wollne Socken , darüber
kommen dann Unterhosen von Vati, dann darüber alte Kniestrümpfe, dann wieder ein Paar zerstopfte Socken, dann
blaue lange Leinenhosen, die Vati zur Arbeit getragen hat, an den Füßen dann Klumpschuhe, die ich nicht mal
bezahlen konnte, meine Schuhe, auch nur gefundene, sind alle kaputt. Nun weiter meine Anputz (?), eine schwarze
gefundene alte Wolljacke; darüber Christels Strickjacke, gehe ich raus, dann ziehe ich eine gr. Militärjacke rüber
und dann meinen alten braunen Mantel, der damals //
4)
schon zum Trägerrock umgearbeitet werden sollte, ich bin froh, dass ich ihn damals auf der Flucht noch über den
neuen schwarzen Mantel überzog. Letzterer wird auch zur Fahrt ins Reich verwahrt, ebenfalls ein Pullover u. ein
ganz zerstopfter schw. Wollrock von Christel. Auf dem Kopf trage ich eine gestrickte Mütze u. bei starker Kälte u.
Sturm noch ein Tuch rüber. Meta Wundram sieht auch verboten aus, ebenfalls Hans Wundram. Man hat uns doch
einfach alles weggenommen. Vati hatte nur einen Rucksack und ich meine Handtasche., die//
4b)
wir von all unseren Sachen noch retteten. Unser Handwagen mit verschiedenen Koffern verbrannte, in Wundrams
Laden. Und was wir an Handgepäck hatten, wurde uns von den hereinstürmenden Russen aus den Händen gerissen,
auch heute noch werden wir ausgeplündert u. beraubt sogar am Tage dringen Banditen ein. Hilferufe gellen täglich
an unser Ohr u. immer die bange Frage, wann kommen wir wieder ran. Meine herzlieben Kinder, es liegen solch
große Kontraste zwischen Euch und uns, ich bin aber trotzdem glücklich, dass ich Euch in der besseren Hälfte
weiß. Gewiß, ich weiß, dass auch Euer neues Leben schwer ist. Ihr müßt auch um Eure Existenz kämpfen, aber Ihr
habt wenigstens die Aufbaumöglichkeit und werdet es auch schaffen. Sorgt Euch nicht so viel um mich, ich leide ja
mit so vielen anderen Müttern u. Eltern, Kindern u. andern Mitmenschen, wir müssen es eben tragen, wie es kommt
und wie Gott es für uns bestimmt. //
5)
Kbg. Den 22.1.1947.
Meine lieben guten Kinder heute komme ich nun zum Weiterschreiben, unser kl. Petroleumfunzelchen ging am
19.1. aus, u. Neues mußte erst erworben werden, habe kl. Wirtschaftsdinge ( Pfanne, Tellerchen, Vorhängeschloß,
Wollschal ) auf dem Markt verkaufen können u. habe mir sogar 2 Pfund Brot für 30 Rubel u. ein
Streichholzschachtelgroßes Stückchen Butter für 12 Rbl. geleistet u. bin dann zu Meta, Wundrau gegangen u. wir
haben zusammen eine Butterstulle gegessen u. sie konnte dazu eine Tasse Boullion spenden, die aus einem
gefundenen Pferdehuffuß//
5b) gekocht war. Dann konnte sie mir noch einen Teller Suppe spenden, der von innerem Kürbis und
durchgekochten Hafer gewonnen war, es schmeckte mir köstlich u. unser Magen war wieder gefüllt, überhaupt
waren wir heute beide beglückt, dass wir noch einander haben u. von unseren Lieben im Reich sprechen und
schwärmen können. Auch haben wir gestern Hans Wundram im Krankenhaus besucht. Sein Bein ist aufgegangen u.
eine Operation brauchte nicht vorgenommen zu werden. Hoffentlich geht alles weiter gut und er kann seine
tapfere Marta wieder erlösen. Metas Lungenstiche waren gestern leider wieder sehr stark und der Luftmangel groß
u. heute ist sie wieder zur Nachtwache, wenn sie es doch nur gut überstehen möchte, wenn sie sterben sollte ist
auch mein Halt hin u. ungefragt sagt sie dasselbe von mir. Wir beide hoffen weiter u. es ist wirklich so: Gott gibt
uns in unseren tiefsten Verzagtheiten auch wieder Kraft u. Lichtblicke, u. meine lieben Toten bitte ich, auf meinen
einsamen Wegen //
6)
zu den Märkten immer um Fürbitte bei unserem himmlischen Vater uns weiter beizustehen und uns doch noch ein
Wiedersehen mit unseren Lieben im Reich zu schenken. O, wird das schön u. nicht wahr? das würdet Ihr
Herzlieben mir spenden: ein Brot u. dass ich dieses auf einmal aufessen könnte, ganz trocken, ohne jeglichen
Belag; dies war Martas u. mein Weihnachtstraumwunsch. Hans W. wünschte sich ein Flugzeug, das vor uns landen
möchte u. uns drei ins Reich zu Euch lieben bringen sollte, kein Wunsch erfüllte sich. //
6b)
Liebes Echen, Hans Wundrams Bruder, er bekleidete schon während Kriegs- u. Friedenszeit eine große Stellung in
der Regierung, war aber nie Parteimitglied u. ist jetzt wieder in großer Stellung in Berlin, könntest Du, lieber
Schwiegersohn, dich vielleicht mit ihm in Verbindung setzen, oder ihn bei Gelegenheit aufsuchen, vielleicht kann
er für uns was ausrichten und uns erlösen, ich schreibe Dir seine Adresse nachfolgend: Georg Wundram, Berlin -
Wilmersdorf, Saalfelderstr. 7 III Treppen, Anruf 872400. Es wäre doch eine Möglichkeit, Wundrams haben wohl
auch mehrmals geschrieben, aber wir wissen nie, ob unsere Post ankommt u. da müssen wir eben alles versuchen.
O, wäre das wunderschön, dieses gegenseitige Wiedersehen mit Euch Lieben, und meine kleinen, lieben, wie
möchte ich sie abdrücken, wie glücklich war immer die alte Omi, wenn sie mit ihnen zusammen sein durfte, u.
mein großer Erstgeborener Enkelsohn ist weiter so hilfsbereit u. tüchtig und mein Pümelchen, meine kl.
Pusterchen(?) u. Ursula strickt schon, das ist ja großartig, da ist die Omi ja schon(?) entlastet u. der kaputte Finger
braucht nicht mehr zu stricken, aber etwas kann er ja doch noch tun u. dann stricken wir beide zusammen und
meine große Ingrid u. Brigittchen sind auch tüchtig und lernen u. handarbeiten, das muß ich doch eigentlich noch
alles miterleben und bewundern, na, die alte Omi wird alles tapfer ertragen immer weiter neue Hoffnung u. Mut
fassen, vielleicht schafft sie es doch noch. Heute habe ich meinen Pullover frisch gewaschen, ich will ihn auch
noch opfern u. verubeln, vielleicht bringt er 80 - 100 Rbl u. hält mich wieder etwas über Wasser. Grüßt alle, alle
Lieben von mir, an alle denke ich mit großer Liebe u. Sehnsucht, ein Wiedersehen mit Euch lieben allen muß
herrlich sein und wäre meine größte Freude nach all den tiefen Leid, das ich durchleben mußte. Nun bleibt alle,
alle schön gesund und hoffnungsfroh, genießt jede Stunde Eures Zusammenseins, dies habe ich in glücklichen
Zeiten so oft zu Euch geschrieben u. meine lieben Toten haben dies auch immer befolgt u. es war gut so. Seid
gegrüßt von Eurer liebenden Mutt u. Omi.
55
Eckernförde den 31.4.47.
Mein liebes gutes Muttchen! Deinen lieben/Brief vom 9.1 haben wir heute mit ganz / großer Freude erhalten. Der
Brief, den Du in / den russischen Briefkasten stecktest, ist noch nicht ein- / getroffen. Dein liebes Foto erfreute uns
/ sehr. Ich habe dir heute bereits eine Karte / geschrieben. Nun geht heute das erste / Päckchen an dich ab. Es sind
selbst gesammel- / te Bohnen, die du gründlich einweichen sollst, da / sie sonst etwas streng schmecken. Ferner
haben / wir Dir 100 Blättchen Zigarettenpapier, / 1 Feuerzeug mit Stein, 20 Rasierklingen / mitgeschickt. Die
Rasierklingen sind stets zwei Stück in einer Hülle verpackt. / Diese Sachen sind bei uns große Mangel- / ware und
wir nehmen an, dass du dir / damit auch einiges an Lebensmitteln / eintauschen kannst. Schreibe auch, was / wir dir
davon oder eventuell an anderen / Sachen schicken sollen. Wir könnten dir auch / Tabakpfeifen schicken, wenn du
dir da- / mit etwas eintauschen kannst. Hoffent- / lich hast du den Winter {gut] einigerma - / ßen überstanden. Wir
sorgen uns sehr / um dich. Wenn du irgend eine Gelegen- / heit hast, hierher zu kommen, dann nutze / sie nur. Bis
ihr geschlossen von dort // abtransportiert werdet, kann noch lan- / ge dauern. Und du mußt im Laufe / des
Sommers schon kommen, damit / du zum Winter hier bei uns bist. Hier wirst du dich bald erholen und wir / werden
dich mit allem pflegen, was / nur zu Gebote steht. Wir haben den / Winter gut überstanden. Hatten Heizung / und
auch die Verpflegung war gut. / Trotz der Kälte sind wir alle von / Krankheit verschont geblieben. Tag / um Tag
sind unsere Gedanken und / Sorgen bei dir. Wenn wir dir doch / helfen könnten. Kannst du nicht / mit Wundrams
etwas zusammen / unternehmen. Ob du jetzt zum / Frühjahr Beschäftigung findest und / auch noch die Kräfte dazu
haben wirst. / Womit hast du, mein Muttchen, solch / ein hartes Schicksal verdient, die / du dein ganzes Leben
hindurch so / viel Liebes und Gutes an vielen / Menschen getan hast. Ich hoffe auf / ein baldíges Wiedersehen.
Dann sollst / du noch einen schönen, ruhigen Lebens- / abend bei uns haben! Innigste / Grüße von uns allen, deine
Tochter. Hildegard.
56
Speichersdorf, d. 11 Mai 1947
Mein liebes gutes Muttchen Krüger.
Sobald mir Gelegenheit gegeben ist / scheide ich freiwillig aus dem Leben. /Denn die Zeit drängt, ich möchte /
nicht länger zur Last fallen. Unser / lieber himmlischer Vater wird / mich verstehen u. mir diese Sünde / vergeben.
Ihnen, liebes Muttchen / noch herzlichen Dank für / alles, alles Liebe u. Gute, das / Sie mir angedeihen ließen. Sie
sind die tapferste u. treueste / Mitschwester u. Muttchen, die / ich kennen gelernt habe. Sollten / Wundrams noch
einmal es schaffen/ herzukommen, grüßet Sie sie herz- / innig, dank meiner lieben / Meta in Sonderheit für all ihre /
Schwesterliebe, die ich in so reichem / Maße von ihr empfangen habe. / Ich glaube nicht mehr, das sie es // nach
K(?)aunas schaffen wird, denn ihre u. ihres lieben Hanssens Lebens- / kraft ist hin. Leben Sie / wohl grüßen Sie
liebes Muttchen / Krüger alle, die mich ein wenig / gern hatten. Alles andre lege / ich vertrauensvoll in Ihre star- /
ken mütterlichen Hände, sie / haben immer das Richtige getan / u. gewollt. Allen dies zur frei- / willigen Kunde.
Ich habe alles liebes / Muttchen Krüger geregelt. Nach m. freien Entschluß aber soll dies nun / sein, wie ich mein
Eigenleben be- / schließe. Dies wird nicht nach ihrem / Sinn sein, aber die Zeit drängt / und die Qual zu groß, muß
schnell / beendet werden. Also liebes Muttchen /. Krüger wirst mich auch hier vielleicht verstehen , es geht nicht
anders,
57
Kbg.9.10.47
Mein herzliebes gutes Tochterchen!
Briefe, bzw. Karten erhielt ich von Euch Lieben vom/ 20/9, 25/9,2/10, 9/10 von Lewalds v. 25/10, 5/11 / von
Gerda Ludwig vom 2/10, v. Lieselotte v.3/11, von / Trudchen Göldner vom 9/10 u. Helga vom 18/9. / Hab Du
mein liebes Tochterchen besonders herzlichen / Dank für Deine vielen ausführlichen Briefe, es / war für mich die
allerschönste Weihnacht in mei- / ner trostlosen Einsamkeit. Ich fühlte Eure Nähe / u. es machte mir das Herz froh
u. glücklich, dass / ich Dich wohlgeborgen u. alle vereint weiß. Auch / der Brief von Lieselotte brachte mir
übergroße / Freude: Ingrid getauft, da wird auch unsre liebe / Große im Grabe Ruhe haben, auch dass Rohle und /
Liselotte sich vereinen wollen, ist ein großer / Wunschtraum von mir gewesen, der sich auch hof- / fentlich erfüllen
wird. Ich wünsche von Herzen, dass / Rohle inzwischen heimgekehrt ist u. drei / Frauen Stütze u. Hilfe sein kann.
Ob nun / mein letzter Wunschtraum sich erfüllen wird, / Euch Lieben alle noch einmal wieder zu sehen, steht / in
Gottes Hand, es sieht augenblicklich ganz / trostlos aus, Kälte u. Hunger steht vor der / Tür u. keine
Hoffnungsschimmer, woher kommt / die Erlösung, die Befreiung aus unserer / tiefen Not, was über uns
beschlossen wird / u. ist, wissen wir nicht, wir lesen keine Zei- / tung, wir hören kein Radio, es fahren keine
planmäßigen Züge, Haupt- u. Nord- / Bahnhof sind Ruinen, vom Verschiebebahnhof / Ponech sollen Züge gehen,
aber wohin, weiß / keiner, ins Reich bestimmt nicht, diese sollen / von Insterburg gehen, wie aber dorthin /
kommen, u. ein Mitfahren ist unmög- / lich, wir hoffen von Monat zu Monat auf / ein geschlossenes
Herauskommen all der / deutschen , die nach ihren Verwandten sich / sehnen, es ist doch ein grausames Schicksal, /
dass auf uns lastet, unsre lieben wollen / mit uns vereint sein u. wir kommen / nicht zusammen, weil es für uns
keinerlei / Möglichkeit besteht u. gibt. Nun mein / liebes Tochterchen legen wir alles in Gottes / Hand, vielleicht
erhört er all unsre innigen / Gebete u. führt uns noch einmal zusam- / men, versucht nicht in die alte Heimat /
zurück zu kehren, es ist alles Lüge und Propaganda, es ist hier alles tot u. leer / in Kbg. selbst exstieren nur wenige
/ Russenmagazine, die meistens in / zurechtgemachten Ruinenhäusern / eingefercht sind. Überhaupt geht man /
von uns, also Speichersdorf, bis weit in die / Stadt hinein bis hinter Tiergarten bis / Luisenkirche ( natürlich auf
Ruinen nur ) // alles nur leer gähnende Fenster in Ruinen / Vom Schloß stehen auch nur noch Mauern, nur / Kaiser
Wilhelm steht noch mit erhobenem / Schwert u. der alte Bismark. Seit Novem-/ ber fährt ein Stückchen
Elektrische Bahn,aber / mit offenen Türen u. offenen Scheiben, / aber nur, wenn Strom da ist. Seid heute / sollen
auch unsre paar übrig gebliebenen / Kinder zur Schule gehen, es war aber nicht / geheizt u. die Kinder haben vor
Kälte ge- / schrieen. In zwei Betrieben sind für die / noch wenig übrig gebliebenen Deutschen / Kleiderkarten
ausgegeben , ein Hohn, denn / wo u. was sollen sie da kaufen, es gibt / doch keine Geschäfte u. die wenigen Rubel,
/ ( 120 -300 ) reichen doch nicht mal zum / Leben. Wir sind alle zerlumpt u. zerrissen / wir haben kein Material, um
unsre / Sachen zu flicken oder stopfen. Ihr Lieben / könnt es Euch einfach nicht vorstellen, wie / wir aussehen. Ich
besitze als altes Eigentum / einen in der Festungszeit gestrickten / Pullover u. Christels Strickjacke, dann als / mein
Heiligtum den schönen Winter- / Mantel von Siegfried, er liegt in einem / Kasten verwahrt, ist von der
Luftfeuchtigkeit / an einigen Stellen schon verstockt, weil / wir doch nur im Zimmer auf kleinen // aufgestellten
Herdchen u. Öfchen kochen , jedoch kann er mir auch noch geraubt werden, denn Raub u. Mord, Überfall u.
Plünderung ist an der / Tagesordnung, Hilferufe hört man täglich/ aber Abhilfe u. Schutz bietet uns keiner / wir sind
vogelfrei, macht- u. ehrlos, selbst / die Russen haben vor ihren eigenen / Stammesbrüdern, den Banditen u. /
Zigeunern Angst, es ist hier alles entsetz-/ lich. Doch nun Schluß von allem, das Briefpapier / ist wieder bald
vollgeschrieben, das Herz ist eben zu / voll. Ihr sollt doch wissen, was hier nicht mit uns ge- / spielt wird u. wir
fragen alle nur immer: / hat man uns hier aufgegeben u. von der Welt / vergessen?! Unser aller Notschrei ist groß!!
/ Nun mein herzliebes Tochterchen u. all meine / Lieben alle seid für alles herzlich bedankt Eure / lieben Zeilen
haben mir so wohlgetan, Eure / lieben Photos sind mir eine heiliges Andenken, / wie gut seht Ihr Lieben darauf aus,
auch die / lieben Bildchen, die mir Liselotte von bei- / den Mädchen schickte, waren mir eine große /
Herzensfreude u. denkt nur, Helgachen schickte / mir eine Vergrößerung von Vati u. Hans-Eber-/ hard, den er als
lachendes Bäbi auf dem / Arm hält, das hat mich auch so herzlich erfreut. / Ob ich wohl bald wieder eine Nachricht
von / Euch erhalte? Bleibt alle, alle Lieben schön / gesund. Genießt jede Stunde, die Ihr beisam- / men seid. Viele
1000 herzliche Grüße an Euch / alle, alle von Eurer treuen Mutt u. Omi.
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( ein Zettel ):
Leb wohl, liebes Muttchen
Krüger.
Deine getreue jetzt so
Ganz verstehende Mitschwester
Luise Werner.
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